Titel: Die Geisterinsel
Instrumentation: Kammeroper mit Mezzo-Sopran, Tenor, Bass, 2 Sprecher und Chor
Jahr: 2010–11
Dauer: ca. 50 Min.
Uraufführung: Staatsoper Stuttgart 2011
Interpreten: Staatsoper Stuttgart
Die Geisterinsel
Erläuterung der Lyrik von Shakespeare zu J.H. Prynne
1609 erlitt die Sea Venture vor der Küste der Bermuda-Inseln Schiffbruch. Der an Board gewesene William Strachy und die anderen Überlebenden brauchten von da an zehn Monate um Jamestown in Virginia zu erreichen – die erste dauerhafte englische Kolonie in der neuen Welt. In Folge schrieb Starchy einen langen, ausführlichen Brief an eine vornehme Dame in England, der später als A true repertory of the wracke [Die wahren Begebenheiten um den Schiffbruch] herausgegeben werden sollte. In diesem schilderte er seine Unglückserfahrung und meinte: “mag sein, dass wir genug Einsicht in das Walten der Natur hatten, um nicht zu vergessen, dass die Menschen am Ende immer danach streben, sich und andere zu erhalten“ (diese Stelle sollte Fernandos Brieftext in Szene 6 meiner Oper werden).
Es heißt Stracheys Brief soll, zusammen mit anderen Dokumenten wie Michel de Montaigne’s Of the Caniballes (in der Übersetzung von John Florio 1603), Shakespeares Der Sturm beeinflusst haben. Die Worte Montaignes hätten nahezu unvermittelt als Basis für Prosperos Charakter fungieren können, wenn er schreibt: „Hier in dieser neuen Welt bewahrten sich die Bewohner eine Form der Kommunikation, die die Dinge nicht beschreibt wie sie sind, sondern wie sie scheinen, oder eher sogar wie sie erscheinen sollen, um den Ruhme des Berichterstatters zu vergrößern.“ Der Sturm (1610-11) ist ein Beispiel für Shakespeares Spätstils, der von Adorno in Anlehnung an Beethovens spätes Werk als „zerrissene Frucht“ bezeichnet wurde. Auch technisch gibt es zahlreiche Parallelen zwischen dem Spätschaffen der beiden Künstler, wie etwa extreme Kompressionen durch Aus- und Unterlassungen, zwanghafte Wiederholungen und Konstrukte, die auf ihre Art den Ausdruck verfremden.
Or else new form’d ’em; having both the key
Of officer and office, set all hearts i’th’ state
To what tune pleas’d his ear,
(William Shakespeare, The Tempest: 1.2.82-85)
In diesem Beispiel stören die extremen Auslassungen die wohlgeordneten Pentameter. Shakespeare vereint eine Unzahl von Ideen in einigen wenigen kurzen Zeilen und sprengt damit deren Fassungsvermögen. Durch Techniken wie Ellipsen, unregelmäßige Rhythmen sowie Betonungen und Auslassungen, welche die Verbindung zwischen den Wortgebilden durch ihren konstanten Druck auf Klang und Sinn stören, konzentriert der Dichter (oder der Komponist) den Ausdruck immer weiter. Charles Olson erläutert dies und meint, dass das Versmaß des späten Shakespeare „bereits Anzeichen der Akzentbindung und –häufung zeigt, wodurch die Prosodie zu dem wird was sie ist: enge Musik, kantig, lang und abgehackt – und alles in sehr kurzer Zeit.“ Diese „enge Musik“ verlangt vom Leser nicht nur ein konzentriertes, stilles Lesen für sich, sondern auch den ausgesprochenen, hörbaren Vortrag für sich. Es ist unabdinglich, die Bewegung der eigenen Zunge nachzuverfolgen und die Atmung zu beachten – eine Körperlichkeit, die auch im Fokus meiner eigenen Musik liegt.
Ich erhielt von der Staatsoper Stuttgart den Kompositionsauftrag eine relativ unbekannte Oper Johann Rudolph Zumsteegs, eines Zeitgenossen Mozarts, zu bearbeiten. Der Librettist des Werks, Wilhelm Friedrich Gotter, bezog sich bereits auf Shakespeares Der Sturm und gestaltete es im Stil der Weimarer Klassik um, wobei er es mit Werten der Aufklärung auflud. Caliban, im Original eine zwiespältige Figur, wurde bei Gotter zum (närrischen) Bösewicht wodurch er eine klare Trennung von Gut und Böse einführte. Ein weiterer Unterschied findet sich im Ende des Stückes. Dort wo Shakespeare alles offen ließ (Prospero überlässt Caliban die Insel), spann Gotter die Fäden seiner Figuren zu Ende, indem Caliban sich ins Meer wirft und Miranda Fernando heiratet. Zusätzlich spielte die Hexe Sycorax, die im Original mehr einen alten Mythos repräsentiert, als ein tatsächliches Handlungselement darstellte hatte, bei Gotter eine größere Rolle – ihr böser Geist terrorisiert die Menschen im Schlaf. Gotters Änderungen zeichnen ein Bild der unterschiedlichen kulturellen Werte der beiden Epochen und des Einflusses der Aufklärung.
In meiner Bearbeitung der Oper (und in Folge des Librettos) verdichtete ich die Handlung und fokussierte sie auf die Charaktere Prospero, Miranda, Fernando (bei Shakespeare Ferdinand), Caliban und den Geisterchor. Caliban wird von zwei Schauspielern dargestellt, um einerseits die von Prospero gelernte Geisteshaltungen und andererseits seine einheimischen, ursprünglichen Züge zu repräsentieren.
Die Oper besteht aus einem Akt, in die folgenden 13 Szenen geteilt:
Die Geisterinsel
1. Steine
2. Blumen, meine ganze Habe
3. Tiefer ins Leben
4. Schrecken, die uns drohn
5. In der Hülle dieses Sklaven
6. Fremdling, höre meinen Willen
7. Vor des nahen Sturmes Grimme
8. Traurige Korallen
9. „Where the Bee sucks“
10. Der Sturm
11. Geisterchoral
12. Ich heiße Caliban
13. Sandfall
In der Oper weist Prospero Miranda und Fernando an Korallen zu zählen um nicht einzuschlafen, den in der unterbewussten Welt der Träume ist Prosperos Sprache machtlos. In Szene 9 schlafen sie aber trotzdem ein – auch Prospero selbst, der nicht widerstehen kann in die Welt der „süssen Töne und Düfte des verzauberten Schlafes“ einzutauchen. Die Musik dieser Szene ist angelehnt an Robert Johnsons Where the Bee sucks (1660), das bei Shakespeares ursprünglicher Produktion des Sturms verwendet wurde und symbolisiert damit die schwindende Macht Prosperos.
Im Text, They that haue powre to hurt: A Specimen of a Commentary on Shakespeares Sonnets, 94, zeigt der Dichter J.H. Prynne aus Cambridge in beinahe ermüdender Tiefgründigkeit die geschichtlichen und sprachlichen Nuancen jedes Wortes aus Shakespeares Sonett Nr. 94. Schon das Wort „They“, so Prynne, eröffnet unzählige Deutungsmöglichkeiten, da Shakespeare nicht spezifiziert wer „They“ überhaupt sind. Höchstwahrscheinlich bezieht es sich auf einen spezifischen Kreis von Personen, die gelernt haben ihre Macht zu beherrschen und einzusetzen: im Falle Mirandas wäre dies ihre Schönheit, bei Prospero seine Sprache. Caliban spricht das Sonett in Szene 5. „Es ist nicht so, dass sich die menschlichen Figuren im inneren des Gedichts fern und kalt sind – eigentlich sollten sie sich sogar sehr nahe sein, aber die Perspektive von außen zeigt sie so und ohne relativierenden Blickwinkel. Der Leser leitet daher eine unsichere, wachsende, Distanz zwischen dem angedeuteten Sprecher und dem richtigen Sprecher ab.“
Diese wachsende Distanz beinhaltet eine versteckte Gewalt, die nur darauf wartet hervorzubrechen. Meine Strategie war es, einzelne, isolierte Worte Calibans aus Gotters Libretto zu übernehmen und in die glatte Form des Sonetts gewaltsam eindringen zu lassen, sie zu zerbrechen und nun durch Klang eben jene Gewalt heraufzubeschwören. Mein Ziel für Szene 5 war es, Gotters Sprache in die Wüste zu führen, sie einer großen Belastung auszusetzen, ähnlich meinem Umgang mit Zumsteegs Musik, indem ich Klang von Sinn trennte, das Wort seine Bedeutung verlor und nur noch Vibration und akustische Störung war. Geräusche infiltrieren die Originalmusik, ziehen sie aus ihrem historischen, kulturellen Rahmen um sie mit meiner musikalischen Sprache zu verbinden und dann plötzlich die Balance zu kippen. Prospero, Miranda und Fernando sind in meiner Oper Charaktere des Gotter-Librettos: sie sind durch Moralvorstellungen des späten 18. Jahrhunderts definiert, klar und deutlich, ohne die psychologischen Konflikte aus Shakespeares Stück. Caliban ist jedoch durch und durch eine Figur Shakespeares, die weitergereicht durch Robert Brownings Caliban upon Setebos und W.H. Audens The Sea and the Mirror, und ist als solches selbstreflexiv, sinniert oft über seinen eigenen Zustand. Die Oper ist eine Nebeneinanderstellung von Szenen Gotters (Porspero, Miranda und Fernando) und Shakespeares (Caliban), die zeitlich und kulturell klar getrennt waren. Bei Calibans zweitem Auftritt in Szene 12 hatte ich nahezu alle Worte des Charakters im Gotter-Libretto bereits gestrichen und was schließlich übrigblieb ist der Satz „Ich heiße Caliban“, der erste Satz den jemand in einer neuen Sprache lernt – sozusagen die Essenz von Gotters Libretto. In diesem Vakuum erhebt sich Shakespeares Caliban und reflektiert über die inhärenten Machtverhältnisse beim Lernen einer dominanten Fremdsprache und wie dies benutzt warden kann Distanz zur Muttersprache und eigenen Kultur zu schaffen. Ich setzte in dieser Szene Shakespeares lyrische Worte gegen den repetitiven „Ich heißte Caliban“-Refrain, der vom Chor stellenweise auf- und auseinandergenommen wird, sodass manchmal nur tierische Ausrufe blieben. „Ich heiße Caliban“ weist auch auf Montaignes Of the Caniballes-Essay hin, der von der Kolonisierung Südamerikas erzählt und wie die Einheimischen als Kannibalen bezeichnet wurden. Caliban wurde von Prospero so getauft um erzogen und kontrolliert werden zu können.
Die Gestaltung meiner Musik nimmt auf die Grammatik Zumsteegs direkten Bezug, im Stil gleich dem Mozarts und Haydns, indem sie musikalische Rhetorik von innen heraus durch eine Verkomplizierung des Aufbaus verfremdet – angelehnt an Shakespeares Spätwerk. Die meisten rhythmischen Metren wurden von den schroffen, zerrütteten Versmaßen in Shakespears Der Sturm abgeleitet. Die überhöhten Konsonanzen in Prosperos Zeilen kreieren eine Art poetischen Überschuss, den ich durch konzentrierten Ausdruck, Kompression und Auslassungen im Originalmaterial darstelle. Mein Ziel war es einen kompakten musikalischen Raum zu schaffen, der Ideen durch Überfluss zur Entfaltung bringt und dessen unregelmäßigen rhythmischen Kräfte (wechselnde Metren, Polyrhythmik, Tempowechsel) die klassische Phrasengestaltung deformiert um eine neue Art des Lyrischen hervorzuheben.
Link: www.wisemusicclassical.com/work/68433/Die-Geisterinsel–Ming-Tsao/