Titel: The Book of Virtual Transcriptions
Instrumentation: Oboe, Trompete, Horn, Posaune, Violine, Viola und Violoncello
Jahr: 2004—05
Dauer: ca. 14 Min.
Uraufführung: Fromm Music Foundation 2014
Interpreten: Dal Niente
Dieses dekonstruktivistischste Werk Tsaos, das nicht weniger von den 7 x 7 Zeilen Text von Daniel Libeskinds Virtual House inspiriert wurde, als von dem Adagio aus Mozarts Oboenquartett (KV 370), ist ein gutes Beispiel dafür, wie ungewöhnliche konzeptionelle Ideen eine neue Form hervorbringen und hier zu Inkongruenzen der Eigenklänge traditioneller Instrumente führen (was deren mitschwingende Bedeutungen mit einschließt), wenn die Klänge immer wieder denen anderer Instrumente ähneln, die gar nicht da sind. So kommen aus dem verstimmten und gedämpften Blasinstument und der Oboe Klänge, die an verschiedene Orgelregister erinnern, besonders an die Flöte. Die spröde Logik von 49 architektonischen Scherzfragen, die in eine Reihe klingender Strukturen transkribiert wurden, weist einen Weg aus dem konventionellen Narrativ und de- wie rekonstruiert Zusammenhänge, die dann wiederum einer vorschnell verstandenen Kontinuität entgegenstehen. Wenn es eine Konstistenz gibt, dann die einer fortwährenden Seltsamkeit und Verfremdung. Die ständigen Ligaturen und gelegentlichen Fermata, die in der Musik Kadenz und Auflösung genannt werden, verstärken letztlich nur den Eindruck des Rätselhafen und Inkongruenten und zum Ende hin erhält selbst noch das banalste skalare Material die überraschende Eigenschaft des Deplatzierten und musikalisch Unverwandten. In einer dekonstruktivistischen Architektur können Wände, Treppenhäuser, Fenster oder Vorhallen nicht für bare Münze genommen werden: Ähnliches gilt hier für Instrumente, Zäsuren, Kontinuitäten oder Soli – all dies wird in Bezug auf das Ganze neu wahrgenommen, so als stünde man auf einem konzeptuellen Gefälle oder schrägen Untergrund, die einem die gewohnte Perspektive versagen. Am deutlichsten ist dies bezüglich der Form und Zeit des Stückes, die einen in eine unausgesetzte erregte Ratlosigkeit versetzen – die Rätselfrage lautet: Was ist das eigentlich? Auch gründet die Frage im Nachhinein auf einer nicht abreißenden, wissbegierigen Spannung, Räumlichkeit und Logik: all dem, was die Richtigkeit des fragmentierten Ganzen ausmacht.
Steven Takasugi
Link: www.wisemusicclassical.com/work/64747/The-Book-of-Virtual-Transcriptions–Ming-Tsao/